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Fazit

  1. Was ist Narziss' wahres Selbst?
  2. Motivation von Ovid
  3. Persönliches Fazit

Was ist Narziss' wahres Selbst? [top] [nächster Abschnitt]

Ich habe zwei von Grund auf verschiedene Interpretationen vorgestellt. In der ersten ist Narziss von Anfang an egozentrisch und selbstverliebt. Er lässt diejenigen, die in hin verliebt sind, eiskalt abblitzen. Dafür wird er mit unerfüllbarer Liebe bestraft. In der zweiten ist Narziss ein selbstbewusster Junge, der so von seinen Verehrern nicht akzep-tiert wird und deshalb in den Konflikt zwischen wahrem und falschem Selbst gerät.

Auffällig ist, dass bei beiden Interpretationen nur die Versionen des ersten Hauptteils völlig verschieden sind. Die Versionen des zweiten Hauptteils deuten beide den furor, zwar auf unterschiedliche Weise, aber das liegt daran, dass dieser seinen Ursprung in dem ersten Hauptteil hat.
Was ist also der Unterschied zwischen den beiden Hauptteilen?

Der zweite Hauptteil besteht zu einem großen Teil aus Monolog von Narziss. Wenn aber eine Person direkt spricht, kann man ihre Gefühle und ihr wahres Selbst am besten erkennen. So kommt es dazu, dass über den zweiten Teil ungefähr Einvernehmen herrscht. Im ersten Teil jedoch wird über Narziss fast ausschließlich aus zweiter Hand berichtet. Dadurch können Missverständnisse und Ungenauigkeiten entstehen; bestes Beispiel dafür sind die zwei Bedeutungen von superbia. Wo aber Ungenauigkeiten sind, bleibt dem Leser viel Freiraum, um selbst Spekulationen anzustellen.

Da nun geklärt ist, woher die Unterschiede zwischen den Interpretationen stammen, kann man auch eine Antwort auf die Frage 'Wie ist Narziss wirklich?' finden: Es gibt nämlich keine. Es ist der Konflikt zweier Parteien (Narziss - Verschmähte) dargestellt. Man kann sich nun jeweils in die Gefühle und Gedanken einer Partei hineindenken und wird fast immer zu dem Schluss kommen, dass man auch für denjenigen Partei ergreift, in den man sich gerade hineinversetzt hat.

Aus diesen Gründen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dies eine Metamorphose ist, die man zweimal lesen muss, um Narziss` Wesen richtig zu erfassen. Beim ersten Mal wird man Narziss sicherlich für einen arroganten, egozentrischen Jüngling halten, jedenfalls bis zu seinen Liebesqualen an der Quelle, da wird nämlich das Mitleid des Lesers angesprochen. Nachdem aber nun beim Leser Mitleid erregt worden ist, wird er sich vielleicht fragen, ob Narziss solch eine harte Strafe verdient hat, und er wird die Geschichte noch einmal von vorn lesen und dabei besonders auf Textstellen achten, die Narziss entlaste, wie es in der zweiten Interpretation geschehen ist.

Der Leser wird also beide Interpretationsmodelle durchdenken und sich am Ende je nachdem, in welcher Situation er sich gerade befindet, ein Urteil über Narziss bilden: Wenn der Leser kurz zuvor selbst in der Liebe enttäuscht worden ist, dann wird er Narziss wahrscheinlich als Egoisten, als 'Täter' sehen. Wenn er selbst andauernd begehrt wird, dann wird er Narziss eher bemitleiden und ihn als 'Opfer' sehen.

Es kann folglich keine objektive Antwort darauf geben, welches Narziss` wahres Selbst ist.

Motivation von Ovid [top] [vorheriger Abschnitt] [nächster Abschnitt]

Damit wären wir auch bei der Frage angelangt, was sich Ovid bei dieser Metamorphose gedacht haben könnte.

Hauptmotiv ist sicher nicht die Verwandlung in die Narzisse, denn die tritt zu Gunsten der novitas furoris in den Hintergrund. Ein Hauptgegenstand der Geschichte ist sicherlich dieser furor, den Tiresias schon in Rätseln voraussagte. Damit sind schon zwei Motive genannt: Ovid will den furor von Narziss darstellen, denn er hatte wohl auch schon Ahnung von Psychologie, wenn auch er hier kein exemplarisches Beispiel schil-dern will, sondern einen Extremfall, wie es ihn wohl keinen zweiten gibt. Außerdem will er die Seherkraft von Tiresias beweisen , dessen am Anfang unverständliche Warnung sich am Ende doch als war erweist.

Es gibt aber noch ein weiteres Motiv, das mit der Unlöslichkeit der Frage nach Narziss` wahren Selbst zusammenhängt. Ovid, ein Experte in Sachen Liebe, will bestimmt auch das Problem Liebe und Gegenliebe darstellen und, da wohl jeder einmal damit konfron-tiert wird, gute Ratschläge geben.

So könnte er denjenigen raten, die Enttäuschungen in der Liebe erlitten haben, nicht zu lange darüber zu trauern, aber auch nicht den Geliebten zu hassen, indem man z.B. Gerüchte in die Welt setzt (superbia), die ihm schaden könnten.

Diejenigen, die sich vor Verehrern nicht retten können, könnten aus der Geschichte für sich mitnehmen, dass sie den Verehrern freundlich und einfühlsam klarmachen, dass sie an einer Beziehung nicht interessiert sind, denn wenn sie das nicht machen verletzen sie die anderen, und dies könnte auch durchaus negative Folgen für sie haben.

Persönliches Fazit [top] [vorheriger Abschnitt]

Ich denke, dass Narziss selbstbewusst, aber nicht selbstverliebt ist. Aber er erteilt seinen Verehrern zu harte Abfuhren, sodass diese zornig auf ihn werden und die Gesellschaft (die Götter) gegen ihn hetzen. Deshalb erleidet er die Störung, an der er zugrunde geht.
Es ist durchaus wichtig sich von den anderen abzuheben, ein Individuum zu sein, man muss aber bedenken: je höher man steigt, je stärker man sich von den gesellschaftlichen Normen entfernt, um so schlechter wird man von unten gesehen bzw. verstanden.

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