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Die 'Moderne' Interpretation



Angesichts der Überlegungen, die Alice Miller angestellt hat, ist es gegeben, sich die Sage von Narziss noch einmal vorzunehmen und zu prüfen, ob Narziss wirklich so selbstverliebt und egozentrisch ist oder er vielleicht ein Opfer seines sozialen Umfelds ist.

Ausgangspunkt auch dieser Interpretation ist wieder die Warnung von Tiresias si se non noverit (348). Nach neuerlichen Überlegungen muss man über beide bisherigen Sinne-benen noch eine dritte erheben: nämlich die Selbsterkenntnis, die Erkenntnis der wahren Gefühle und des Selbstbewußtseins.

Doch wo soll in der Geschichte diese Erkenntnis stattfinden? Bestimmt nicht an der Quelle, denn sonst würde Narziss wohl nicht sterben. Diese Erkenntnis muss also vorher stattfinden, ansonsten würde es keinen Sinn machen, wenn er vor ihr gewarnt würde, sie aber nicht erlange und trotzdem sterbe.
Nehmen wir einmal an, Narziss hat eine gute Kindheit gehabt und konnte so sein wah-res Selbst und ein starkes Selbstbewußtsein entwickeln. Nun muss untersucht werden, ob diese Hypothese auch der Text hergibt.

Zunächst betrachte ich wieder das variierte Catullzitat in den Versen 353-355. Als wichtigste Eigenschaft von Narziss ist superbia genannt worden. Superbia kann außer Hochmut aber auch starkes Selbstbewußtsein bedeuten. Setzt man dies nun noch mit dem Catullgedicht in Beziehung, in dem das Mädchen zuerst 'gepflückt' wird, dann aber nicht mehr von Interesse ist, dann kann daraus folgern, dass Narziss eben nicht wie das Mädchen wegen seiner Schönheit begehrt werden und so enden will. Er kann also schon durchaus eine Beziehung wollen, aber keine oberflächliche, die nur auf Äußerlichkeiten beruht. Für die Abgewiesenen scheint dieses Selbstbewußtsein vielleicht wie Hochmut aussehen. Deshalb steht superbia genau zwischen den beiden Versen, in de-nen die Bemühungen der Verehrer beschrieben werden, um auszudrücken, dass dies ihre Sichtweise ist.

Auch Echo hat ihn nur kurz erblickt und ist schon verliebt in Narziss (370ff). Außerdem sagte Churchill einmal: "Wenn zwei das gleiche sagen, dann ist einer von beiden überflüssig." Und so sieht das auch wohl Narziss, er will eben keine solche auf Äußerlich-keiten beruhende Beziehung, schon gar nicht, wenn die Frau ihm alles nachplappert.

Und es gibt noch einen weiteren Grund: Angenommen Narziss wäre narzisstisch gestört und er wollte seine Bedürfnisse nach Echo und Spiegelung stillen, dann wäre doch ideal für ihn und er würde nicht vor ihr fliehen (390). Weiterhin zeigt der Umstand, dass er mit Kameraden auf Jagd ist und dass er diese ruft, als er sie verliert, dass er durchaus Umgang mit anderen Menschen hat und sucht, diese aber nur gut auswählt.

Bei den anderen Verschmähten regen sich Wut und Zorn gegenüber Narziss, weil es wohl zu der Zeit nicht üblich war, dass sich ein junger Knabe vehement gegen Annäherungsversuche wehrt, sodass einer sogar Nemesis anruft, ihn zu bestrafen.

Narziss hat also - etwas moderner gesprochen - gegen die allgemeine Moral verstoßen und bekommt dafür den Druck der Gesellschaft zu spüren. Ovid nennt diese Urteil gerecht (406). Vielleicht will er aber auch provozieren und stellt iustis betont an das Ende des Verses 406, damit es dem Leser auffällt und er zweifelt, ob es wirklich gerecht ist. Man muß sich die Frage stellen: "Ist es normal, nur weil alle es tun?"

Dieser Druck aber wird für Narziss zu groß. Er ist mit 16 Jahren schließlich fast noch ein Kind und damit - wenn auch schon im Endstadium - noch in der Selbstfindungsphase. Sein wahres Selbst wird von seinem sozialen Umfeld verachtet und seine Schön-heit wird von allen gelobt. Es kommt zum Zusammenbruch seines wahren Selbst und es bildet sich ein neues, falsches Selbst, welches sich auf seiner Schönheit begründet. Der Gestörte bewundert sich selbst wegen dieser hervorragenden Eigenschaft, er muss aber auch gleichzeitig von der Außenwelt Bestätigung einholen. In dieser Situation kommt Narziss an die Quelle (413). Er sieht sein Spiegelbild in der Quelle. Doch dieses Spiegelbild täuscht ihn. Denn es spiegelt nur den vollkommenen, großartigen Teil von ihm wieder. Seine Rückenseite und sein Schatten sieht er nicht im Wasser, sie gehören nicht zu dem geliebten Spiegel-bild, sie sind abgespalten. Er verleugnet die verachteten Gefühle und will nur der schöne Jüngling sein.

Dieses Stadium des Entzückens ist mit der Grandiosität zu vergleichen. Er bewundert sich wegen seiner Schönheit. Dann kommt es aber zu der Erkenntnis, dass das Spiegel-bild er selbst ist. Die erste Schutzmauer, die Grandiosität, fällt zusammen, und es bricht die mit der verzehrenden Sehnsucht nach sich selbst vergleichbare Depression aus. Der Depressive sieht sich als Versager. Auch Narziss spricht Wünsche aus, die paradox sind und die er nicht erfüllen kann (467f). Als seine Tränen das Wasser trüben und sein Spiegelbild verschwindet, zerbricht sein Ersatzspiegel und er bricht in narzisstischer Wut aus. Doch als das Wasser wieder auf-klart und er sein durch die Schläge entstelltes Bild sieht, ist das zuviel für ihn; seine Schönheit ist verschwunden, sein darauf basierendes falsches Selbst bricht auch zusammen und er stirbt. "Dieser Tod ist eine logische Konsequenz der Fixierung auf das falsche Selbst." Denn besonders die unbequemen und unangepassten Eigenschaften, die im falschen Selbst abgespaltet sind, vertiefen unser Dasein und gewähren uns ent-scheidende Einsicht; nicht nur die schönen guten und gefälligen Gefühle lassen uns lebendig sein.

"Narziss ist in sein idealisiertes Bild verliebt [...]. Seine Begeisterung für sein falsches Selbst verunmöglicht ihm nicht nur die Objektliebe, sondern auch und vor allem die Liebe zu dem einzigen Menschen, der ihm voll und ganz anvertraut ist - zu ihm selber."

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